Die Auflösung des Düsseldorfer Großmarktes
Aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt sich für die Gemeinden keine Pflicht, bestimmte Aufgaben der freiwilligen Selbstverwaltung zu übernehmen oder fortzuführen.
In dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall streiten eine Großhändlerin, die seit mehr als 30 Jahren einen Obst- und Gemüsegroßhandel auf dem Düsseldorfer Großmarkt betreibt, und die Landeshauptstadt Düsseldorf über die Rechtmäßigkeit einer Satzungsänderung zur Auflösung eines von der Stadt Düsseldorf betriebenen Großmarkts. Rechtsgrundlage für dessen Betrieb ist § 1 der Satzung für den Großmarkt der Landeshauptstadt Düsseldorf vom 17.12.19981 (Großmarktsatzung). Dort heißt es: „Die Landeshauptstadt Düsseldorf betreibt den Großmarkt als öffentliche Einrichtung“. Am 1.07.2021 beschloss der Rat der Landeshauptstadt Düsseldorf, die öffentliche Einrichtung Großmarkt zum 31.12.2024 aufzulösen. Hierzu verabschiedete er ebenfalls unter dem 1.07.2021 die „Änderungssatzung: Aufhebung des § 1 der Großmarktsatzung (Satzung für den Großmarkt Düsseldorf der Landeshauptstadt Düsseldorf vom 17.12.1998)“ mit der § 1 der Großmarktsatzung um den folgenden Satz 2 ergänzt wurde: „Satz 1 wird mit Wirkung zum 21.12.2024 aufgehoben.“
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat den gegen die Änderungssatzung gerichteten Normenkontrollantrag der Großhändlerin abgelehnt2. Der zulässige Antrag sei unbegründet. Die Änderungssatzung sei formell und materiell rechtmäßig. Die satzungsrechtlich umgesetzte Auflösungsentscheidung stehe nicht im Widerspruch zu den rechtlichen Vorgaben der §§ 7, 8 Abs. 1 Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GO NRW). Die Änderungssatzung verstoße auch nicht gegen die kommunale Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Das gelte selbst dann, wenn man der Selbstverwaltungsgarantie nicht nur das gemeindliche Recht zuordnen wolle, sich grundsätzlich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen, sondern auch eine entsprechende Pflicht. Die Änderungssatzung stehe auch mit sonstigem höherrangigem Recht – insbesondere dem Bestimmtheitsgebot – in Einklang. Die hiergegen gerichtete Revision der Großhändlerin hat das Bundesverwaltungsgericht als unbegründet zurückgewiesen; das Oberverwaltungsgericht habe revisionsrechtlich fehlerfrei angenommen, dass die „Änderungssatzung: Aufhebung des § 1 der Großmarktsatzung (Satzung für den Großmarkt Düsseldorf der Landeshauptstadt Düsseldorf vom 17.12.1998)“ wirksam ist:
Gegenstand des Normenkontrollantrags ist die Änderungssatzung mit dem vom Oberverwaltungsgericht für das Bundesverwaltungsgericht bindend festgestellten Inhalt (vgl. § 137 Abs. 1 und § 173 VwGO i. V. m. § 560 ZPO). Danach soll der Großmarkt ersatzlos aufgelöst und die öffentliche Einrichtung hierfür entwidmet werden. Der Großmarkt soll weder als öffentliche Einrichtung noch anderweitig fortbestehen.
Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Damit wird den Gemeinden ein grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassender Aufgabenbereich sowie die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte in diesem Bereich gesichert. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sind solche Aufgaben, die das Zusammenleben und -wohnen der Menschen vor Ort betreffen oder einen spezifischen Bezug darauf haben3. Zum Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung gehört danach kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog, wohl aber die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen4.
28 Abs. 2 GG wendet sich an die Länder, die den Gemeinden das Selbstverwaltungsrecht gewährleisten müssen, und an den Bund5. Eine Verpflichtung der Kommunen, bestimmte Aufgaben wahrzunehmen oder fortzuführen, ergibt sich aus der Vorschrift nicht6. Dagegen spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift, die den Gemeinden ausdrücklich ein Recht gewährleistet, nicht aber Pflichten auferlegt7. Auch ihrer Entstehungsgeschichte lassen sich keine Anhaltspunkte für eine verfassungsunmittelbare Pflicht der Kommunen zur Wahrnehmung bestimmter Aufgaben entnehmen. Vielmehr stand dem Parlamentarischen Rat bei ihrem Erlass allein vor Augen, die Kommunen vor staatlichen Übergriffen zu schützen. Die schließlich in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Bestimmung war im Herrenchiemseer Entwurf noch nicht enthalten, sondern wurde erst im Laufe der Beratungen eingefügt8. Der Vorschlag zu ihrer Einführung orientierte sich an Art. 127 der Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Reichsverfassung – WRV), wonach Gemeinden und Gemeindeverbände das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze hatten. Damit sollte der bis dahin ohne Erwähnung der Gemeinden auskommende Entwurf um eine institutionelle Garantie zur Sicherung der kommunalen Selbstverwaltung ergänzt9 und die Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände gewährleistet werden10. Dem lag die Vorstellung zugrunde, die Selbstverwaltung schützen zu müssen, wenn auch nicht in der Form eines Grundrechts11. In den Beratungen war durchweg nur vom Recht der Gemeinden oder von der gemeindlichen Selbstverwaltung nicht jedoch von einer kommunalen Pflicht die Rede12. Im Laufe der Beratungen wurde erwogen, die Formulierung „Zum Wesen der Selbstverwaltung gehört, dass die Gemeinden alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln haben, soweit das Gesetz dem Lande oder einem Gemeindeverbande nicht Aufgaben zuweist“ in die grundgesetzliche Regelung zur kommunalen Selbstverwaltung einzufügen13. Diese Ergänzung, die nach ihrem Wortlaut für eine aus der Norm folgende Pflicht hätte sprechen können, setzte sich im Parlamentarischen Rat jedoch nicht durch.
Systematisch spricht ebenfalls nichts dafür, aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG eine Pflicht der Kommunen zur Aufgabenerfüllung abzuleiten. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b GG räumt den Kommunen das Recht ein, gestützt auf eine (behauptete) Verletzung von Art. 28 GG Verfassungsbeschwerde zu erheben, was nur mit dem Charakter des Art. 28 GG als einer Rechte – und nicht auch Pflichten – regelnden Bestimmung vereinbar ist. Zudem unterscheidet der Verfassungsgeber in anderen Normen des Grundgesetzes ausdrücklich zwischen Rechten und Pflichten (vgl. etwa Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Art. 25 Satz 2, Art. 33 Abs. 1 GG).
Schließlich stehen auch Sinn und Zweck des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG der Annahme einer aus der Regelung folgenden kommunalen „Aufgabenerfüllungspflicht“ entgegen. Das durch die Norm verbürgte „Aufgabenfindungsrecht“ im örtlichen Wirkungskreis14 würde durch eine zugleich aus der Vorschrift folgenden Pflicht zur Aufgabenerfüllung schrittweise ausgehöhlt. Wegen ihrer begrenzten finanziellen Mittel wären Kommunen schnell außerstande, sich neuer freiwilliger Aufgaben anzunehmen, da die Aufgabenerfüllung nur selten kostenneutral möglich sein wird. Mit fortschreitender Zeit und der wachsenden Zahl einmal angenommener Aufgaben liefe das Recht, neue Aufgaben übernehmen zu können, zunehmend leer. Um den kommunalen Aufgabenkreis entsprechend dem Bedeutungsgehalt von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG entwicklungsoffen zu halten15, muss mit dem Recht, Aufgaben der freiwilligen Selbstverwaltung an sich ziehen zu können, das Recht einhergehen, die Erfüllung solcher Aufgaben nicht fortzuführen. Schließlich enthält Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auch eine spezifisch demokratische Funktion. Die Bestimmung verlangt für die örtliche Ebene eine mit wirklicher Verantwortlichkeit ausgestattete Einrichtung der Selbstverwaltung, die den Bürgern eine effektive Mitwirkung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ermöglicht16. Diese demokratische Funktion, deren Verwirklichung ein hinreichendes Maß an Kompetenzen der gewählten kommunalen Vertretungsorgane erfordert (vgl. Art.20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG), wäre durch eine Aufgabenfortführungspflicht gefährdet. Angesichts endlicher Ressourcen ginge neu gewählten Organen der legitime Einfluss auf die Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben schrittweise verloren17. Es träte eine Bindung an frühere Entscheidungen ein, ohne die Möglichkeit, sich daraus zu lösen.
Bei Anwendung dieses Maßstabs können die von der Großhändlerin in Bezug auf die kommunale Selbstverwaltungsgarantie für den Weiterbetrieb des Großmarkts vorgebrachten Gesichtspunkte nicht zum Erfolg des Normenkontrollantrags führen. Nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist der Betrieb der öffentlichen Einrichtung „Großmarkt“ dem Bereich der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben zuzurechnen, die dem Gewährleistungsgehalt des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG unterfallen. Danach war die Landeshauptstadt Düsseldorf nicht verpflichtet, den Großmarkt als öffentliche Einrichtung fortzuführen, sondern durfte die Einrichtung ohne Begründung auflösen.
Ein Verstoß gegen sonstiges revisibles Recht liegt ebenfalls nicht vor.
Das Oberverwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Rat der Landeshauptstadt Düsseldorf bei seiner Entscheidung über die Auflösung des Großmarkts die Grundrechte der betroffenen Marktbeschicker ausreichend berücksichtigt hat. Angesichts der langjährigen Diskussion über die Zukunft des Großmarkts, den unter dem Vorbehalt des Widerrufs stehenden Zuweisungen von Flächen an die Marktbeschicker sowie der mehrjährigen Übergangsfrist bis zur Auflösung des Großmarkts wären möglicherweise betroffene Grundrechtspositionen nicht unverhältnismäßig eingeschränkt.
Es liegt auch kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot vor. Das Oberverwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die angegriffene Norm auslegungsfähig und ihr Inhalt damit bestimmbar ist. Dass es der Norm einen anderen Inhalt beigemessen hat als die Klägerin, führt nicht zu deren Unbestimmtheit.
Schließlich verstößt auch der Umstand, dass die Landeshauptstadt Düsseldorf nicht die Satzung insgesamt aufgehoben hat, nicht zur Nichtigkeit der durch Satzungsänderung umgesetzten Auflösungsentscheidung. Abgesehen davon, dass die nach dem Wirksamwerden der Auflösung bestehenden „Restregelungen“ derzeit noch ihre Berechtigung haben und die Landeshauptstadt Düsseldorf – wie das Oberverwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat – sie bis zum 31.12.2024 jederzeit aufheben könnte, werden sie nach der Auflösung des Großmarkts gegenstandslos. Eine weitergehende Rechtswirkung ist damit nicht verbunden.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. April 2024 – 8 CN 1.23
- Düsseldorfer Amtsblatt Nr. 52 vom 30.12.1998 [↩]
- OVG NRW, Urteil vom 14.06.2023 – 4 D 125/22.NE [↩]
- BVerfG, Urteil vom 21.11.2017 – 2 BvR 2177/16, BVerfGE 147, 185 Rn. 69 f. m. w. N. – „KiFöG-LSA“ [↩]
- BVerfG, Beschluss vom 23.11.1988 – 2 BvR 1619/83 u. a., BVerfGE 79, 127 <146, 150> m. w. N. – „Rastede“; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 19.11.2002 – 2 BvR 329/97, BVerfGE 107, 1 <12 f.> m. w. N. [↩]
- BVerwG, Urteil vom 21.07.1964 – I C 60.61, Buchholz 451.20 § 65 GewO Nr. 1 S. 4 [↩]
- anders noch BVerwG, Urteil vom 27.05.2009 – 8 C 10.08, Buchholz 415.1 Allg KommunalR Nr. 171 [↩]
- vgl. auch Donhauser, NVwZ 2010, 931 <933> Kahl/Weißenberger, LKRZ 2010, 81 <83 f.> Schoch, DVBl.2009, 1533 <1534> [↩]
- Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl.2015, Art. 28 Rn. 17 [↩]
- vgl. Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum GG, Stand Februar 2024, Art. 28 Rn. 3 [↩]
- vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, Bd. XIV/1, S. 147 ff. [↩]
- vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, Bd. III, S. 414 [↩]
- vgl. etwa Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, Bd. III, S. 413, Bd. XIV/1, S. 148, 150 ff. [↩]
- Leibholz/von Mangoldt, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 1951, N. F. Bd. 1, 255 [↩]
- Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum GG, Stand Februar 2024, Art. 28 Rn. 177 [↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.11.2014 – 2 BvL 2/13, BVerfGE 138, 1 Rn. 47 [↩]
- BVerfG, Beschluss vom 19.11.2014 – 2 BvL 2/13, BVerfGE 138, 1 Rn. 52 [↩]
- vgl. Niedzwicki, KommJur 2011, 450 <455> Szczekalla, NdsVBl.2010, 84 <88> [↩]